Pressestimmen zum Erfurter Amoklauf

  • SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
    "Die grausige Bluttat im Erfurter Gymnasium legt auf brutalste Weise die Finger in die Wunde, an der unsere Gesellschaft ganz offensichtlich krankt. Die Fähigkeit, persönliche Niederlagen einstecken zu können, degeneriert. Gleichzeitig nimmt die Gewaltbereitschaft zu. Stärke ist gefragt - ohne Rücksicht auf Verluste.
    Immer wieder fordern Politiker, dass die Schule nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung, sondern auch ein Ort des sozialen Lernens sein soll. Nichts als Sonntagsreden! Das führt uns das Erfurter Drama nun deutlich vor Augen.


    Immer weniger Jugendliche finden in ihren Familien Heimat. Wo sollen die Defizite aufgefangen werden, wenn nicht in den Schulen? Sozialarbeit gehört auch in die Schulen. Aber, dies darf nicht auch noch von den Lehrerinnen und Lehrern verlangt werden. Ihnen müssen ausgebildete Fachleute, Sozialarbeiter, zur Seite gestellt werden."


    FRANKFURTER RUNDSCHAU
    "Ein Amokläufer kann überall zuschlagen. Es ist diesmal an einer Schule passiert, an einem ehrwürdigen Gymnasium. Hätte ein Tatort Hauptschule in einem Brennpunkt-Viertel uns eher beruhigt, weil die Antworten schneller, einfacher auf der Hand gelegen hätten? Fälle wie der des Amokläufers von Freising, der an seiner ehemaligen Schule den Direktor erschoss, auch die fast schon routiniert zur Kenntnis genommenen Nachrichten von Schul-Attentaten in den USA - das sollte uns stärker alarmieren.
    Die Fülle von Gewalt auf Schulhöfen und in Klassen hat, so sagen Forscher, gegenüber früher gar nicht so sehr zugenommen. Neu ist das Ausmaß an eruptiver Gewaltbereitschaft, das Blindsein dafür, dass das Opfer leidet. Hier sind offensichtlich Tabus gefallen und Risiken der Nachahmung groß. Das mag mit der Omnipräsenz von Gewalt in den Medien, mit eigenem kindlichem Erleben von Aggressivität im Elternhaus zu tun haben. Höchste Zeit für die Suche nach Antworten."


    BERLINER ZEITUNG
    "Wir merken in Augenblicken wie diesen nicht nur, wie gefährdet unsere Gesellschaft ist, auf wie dünnem Eis wir gehen, wie fragil der Schutz ist, den unsere Institutionen, unsere so hervorragend durchorganisierte und durchrationalisierte Welt bietet. Vor allem merken wir, wie wenig uns trennt von denen, vor denen wir glauben uns schützen zu müssen.
    Die Täter sind nicht identifizierbar. Sie sind mitten unter uns. Sie sind nicht anders als wir. Sie unterscheiden sich in einer winzigen, aber über alles entscheidenden Kleinigkeit: Sie machen Ernst. Tödlichen, mörderischen Ernst.


    In diesem Ernst erkennen wir uns und unsere Angst, die ganz wesentlich eine ist vor uns und unseren schrecklichen Möglichkeiten. Es gibt keinen Schutz als den, dass wir aufeinander achten und einander achten. Das lernen wir beim Betrachten der Bilder aus Erfurt."


    WAZ (Essen)
    "Wer heute aufwächst, wächst in eine Welt hinein, in der Gewalt, die unvorstellbar sein sollte, alltäglich scheint. Nachrichten, Filme, Videospiele vermitteln dieses Bild. Welche Wirkung das auf junge Seelen hat, darüber streiten die Forscher. Der normale Menschenverstand sagt irgendetwas bleibt hängen.
    Wer heute heranwächst, kann täglich, stündlich Leichen sehen, aufgeschlitzte Leiber, Massaker und Vergewaltigungen. Und es klingt leider schrecklich altmodisch zu sagen: Das sollte nicht sein. Es sollte nicht sein."


    NÜRNBERGER NACHRICHTEN
    "Es ist ein Wesensmerkmal unserer scheinbar so aufgeklärten, sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützenden Zivilisation, dass wir alles sofort und abschließend erklären wollen. Es muss zwangsläufig einen Schuldigen geben. In diesem Fall wird er nicht zu finden sein.
    Der 19-jährige Schüler, der das Blutbad verursacht hat, ist nach allem, was wir bisher wissen, nicht nur der Täter sondern selbst ein Opfer. Was muss in ihm vorgegangen sein, als er sich die Waffen besorgte und in schwarzer Kleidung sein ehemaliges Gymnasium betrat.


    18 Menschen. 18 Namen. 18 Schicksale. Gestern Mittag sind sie auf schauerliche Weise zusammengeführt worden. Sie waren je nach Lebenssituation fröhlich, ängstlich oder missmutig in den Tag gegangen und hatten nicht damit gerechnet nie mehr nach Hause zurückzukehren."



    MITTELDEUTSCHE ZEITUNG
    "Wenn Lehrer sich von Schülern immer öfter bedroht fühlen, ist das ein Alarmsignal. Wenn Schüler Konflikte untereinander zunehmend mit hemmungsloser Gewalt, gar mit Waffen austragen, stellt sich die Frage nach den Ursachen für diese Aggressionen. Aggressionen, die in dem Bewusstsein umgesetzt werden, dem Gegenüber nicht nur weh zu tun, sondern den Gegner womöglich schwer zu verletzten, ihn im schlimmsten Fall gar zu töten.
    Natürlich ist Hass auf Lehrer ein uraltes Motiv. Auch Unzufriedenheit mit der eigenen Person war seit jeher ein Grund für Gewalt in der Schule. Wenn diese Konflikte aber inzwischen mit Waffengewalt ausgetragen werden, ist der Gesetzgeber gut beraten, den Zugang zu Pistolen und Gewehren - wie jetzt geschehen - zu erschweren."



    Der Standard
    Erfurt - Niemand ahnte das Ausmaß des Verbrechens, als um 11.05 Uhr der Schuldiener die Polbei alarmierte, weil es "eine Schießerei" gebe. Die Polizei rückte zusammen mit Beamten eines Sondereinatzkommandos an und sperrte die Gefahrenzone in dem dicht besiedelten Gebiet, in dem die Schule steht, ab.
    Mit Maschinenpistolen drangen dann die Polizeibeamten in das Gebäude ein. "Überall lagen Leichen", berichtete einer der Einsatzmänner später. Auf den Gängen, in einzelnen Zimmern und auf einer Toilette wurden getötete Menschen gefunden. Da im ersten Stock an einem Fenster ein Zettel mit der Aufschrift "Hilfe" hing, gingen die Einsatzkräfte davon aus, dass sich die - wie vorerst vermutet wurde - zwei Täter dort mit Geiseln verschanzt halten.


    Das Gymnasium, an dem rund 750 Schüler unterrichtet werden, wurde nach und nach evakuiert. Völlig verängstigte Kinder mussten nach draußen geführt und dann mit Bussen abtransportiert werden, viele hatten sich bei der Flucht vor der Schießerei verletzt.


    Bei der Stürmung kam es zu einem Schusswechsel zwischen dem Täter und der Polizei, einer der Beamten wurde dabei tödlich getroffen. Der Täter erschoss sich selbst, bis in die Nachmittagsstunden war unklar, wo sich der zweite aufhält, oder ob die Angaben der Betroffenen überhaupt stimmen und es gebe gar keinen zweiten Schützen.


    Ninja-Maskierung


    Einige Schüler hatten nämlich erzählt, die beiden wären schwarz maskiert, wie Ninja-Figuren durch das Gebäude gestürmt und hätten mit einer Pumpgun und einer Handfeuerwaffe auf alles geschossen, was sich bewegte.


    Andererseits gab es Meldungen darüber, dass der Täter ein Schüler sei, der während einer Abiturprüfung in Mathematik aktiv wurde. Er habe die Prüfungsaufgaben angeschaut, gesagt, dass er darüber ohnehin nichts schreiben würde. Daraufhin habe er plötzlich eine Waffe gezogen und wild um sich geschossen.


    Wegen dieser widersprüchlichen Meldungen musste die Polizei das Gebäude abschnittsweise sichern und evakuieren. Noch um 16 Uhr war nicht klar, ob es einen zweiten Täter gibt.


    Fest stand am Nachmittag die grausame Opferbilanz: 14 Lehrerinnen und Lehrer, zwei Schüler, der Täter und ein Polizist.


    Die Polizei war sich zu diesem Zeitpunkt sicher, dass sich kein Schüler oder Lehrer mehr in dem Gebäude aufhält und begann mit einer neuerlichen Suche nach dem vermuteten zweiten Täter. Nach und nach aber wuchs die Überzeugung, dass der tote Amokschütze keinen Komplizen hatte.


    Den "Amoklauf eines Wahnsinnigen" nannte es am späten Nachmittag Innenstaatssekretär Manfred Scherer in einer Pressekonferenz. Die Bundesregierung und Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel zeigten sich bestürzt. "Der Bundeskanzler und die Bundesregierung haben die Ereignisse in Erfurt mit fassungslosem Entsetzen aufgenommen", sagte ein Regierungssprecher.

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